Es ist geschehen – also kann es wieder geschehen!
Heute ist der 9. November. Heute vor 78 Jahren brannten die Synagogen und die Verfolgung der Juden in Europa gelangte zu einem ersten traurigen Höhepunkt. Seit 6 Jahren putze ich nun am 09. November Stolpersteine in Leipzig, die auf die Schicksale von Menschen in der NS-Zeit hinweist. Wie das von Irma Rosenhein (geb. Baum) aus der Zschocherschen Straße 87.
Denn Erinnern heißt Mahnen – und Kämpfen das sowas nie wieder passiert!
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Irma Baum wurde am 30. Mai 1895 in Nabburg, Bayern, geboren. Nach dem Besuch der Mädchenoberschule in Weiden absolvierte sie erfolgreich eine kaufmännische Ausbildung in Bonn, kehrte dann nach Nabburg zurück und übernahm im elterlichen Kaufhaus Baum die Buchführung.
Ihren späteren Mann Walter Rosenhein lernte Irma Baum in Berlin kennen. Das Paar heiratete 1922 in Nabburg und ging dann nach Leipzig, wo Walter Rosenhein beruflich bereits etabliert war und ein eigenes Geschäft führte. Die letzte Geschäftsadresse – Schreib- und Papierwaren Walter Rosenhein – war in der Zschocherschen Straße 87.
In Leipzig wurde im Juni 1923 die Tochter Berta, von allen nur Bertel genannt, geboren. Sie blieb das einzige Kind der Rosenheins. Die Machtübernahme durch die Nazis traf die Familie wie alle jüdischen Familien mit zunehmenden Ausgrenzungen, Diffamierungen und Repressionen bis hin zur Entziehung der beruflichen Existenzgrundlage.
1938, nach dem Novemberpogrom, gelang es den Eltern, ihre Tochter Bertel mit dem ersten der rettenden Kindertransporte nach England zu schicken. Der briefliche Kontakt sollte fortan die einzige Möglichkeit der Verbindung zwischen Tochter und Eltern bleiben. So erlebte Bertel nur per Brief den ersten erzwungenen Wohnungswechsel mit – aus der Wohnung im Haus Zschochersche Straße 87, wo Bertel ihre Kindheit und ersten Jugendjahre verbrachte, mit der sie also alles Bisherige verband, in die Sedanstraße 6 (heute Feuerbachstraße).
Der bereits 1938 schwerkranke Vater verstarb im August 1940. Irma musste diesen Verlust ohne den unmittelbaren Beistand ihrer Tochter verkraften, und Bertel konnte die tragische Tatsache vom Tod des Vaters nur aus Briefen der Mutter erfahren. Kurz vor Walter Rosensheins Tod wurden die Eheleute übrigens zu einem weiteren Wohnungswechsel gezwungen – in das „Judenhaus“ Nordplatz 7.
Konnte Irma den Tod ihres Mannes auch nie verwinden, verkroch sie sich jedoch auch nicht in eine selbstgewählte Isolation, sondern suchte nach einer neuen Aufgabe. Wenn schon die bitteren Umstände sie daran hinderten, ihre Tochter und ihren Mann zu umsorgen, so nahm sie nun ein Pflegekind zu sich, dem sie alle ihre liebevolle Aufmerksamkeit widmete.
Rosel (Rosa Lea Rubinstein) war Halbwaise und 11 Jahre alt. Sie gab ihr neben den Briefen ihrer Tochter aus London und den engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Bruckmanns , die im gleichen Haus wohnten, einen neuen Lebensinhalt und verhinderte, dass sich Irma isolierte und sich ganz der Trauer um Walter hingab.
Zum 30. November, dem Tag, an dem Bertel mit dem ersten Kindertransport Leipzig verließ, schrieb sie in einem Brief Ende November 1941 an Bertel: „…Weißt Du, was heute für ein Tag ist? Es sind drei Jahre, dass Du von daheim fort bist. In Gedanken sehe ich noch jede Minute vor mir & erleb alles noch einmal. Manchmal versteh ich gar nicht, dass ich Dich, mein Liebes, damals von mir fortgehen ließ. Und doch war es so richtig & hätte es nicht anders machen dürfen. …“
Den letzten ausführlichen Brief von der Mutter erhielt Bertel am 22. Januar 1942. Er war drei Wochen unterwegs. Ihre darin formulierten Hoffnungen und Wünsche auf ein Wiedersehen erfüllten sich nicht. Irma war zu diesem Zeitpunkt bereits in jenem Deportationszug, der am 21. Januar 1942 im Rahmen der ersten Deportation aus Leipzig in das Ghetto und spätere KZ Riga – Kaiserwald ging.
Über die letzten Stationen der bescheidenen, starken Frau, die bis zuletzt die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihrer Tochter nicht verlor, ist nichts bekannt. Irma Rosenhein kam im September 1943 in Riga um. Bertel und die wenigen anderen überlebenden Familienmitglieder erfuhren von ihrem Leidensweg und Tod erst nach dem Krieg.
Quelle: Dr. Andrea Lorz
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