Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts!

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Derzeit haben es Städte und Gemeinde schwer, Tempo 30-Zonen rechtsicher einzuführen. Wir unterstützen einen Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drucksache 6/6152), welcher die Einführung erleichtern soll:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

10,50 Meter, so tief fällt man, wenn man aus dem dritten Stock eines Hauses stürzt. Wir können am Neubau dieses Hauses sehen, was 10,50 Meter und ein dritter Stock bedeuten. 10,50 Meter entsprechen in etwa dem Aufprall eines Menschen, wenn er von einem Auto mit 50 Kilometern pro Stunde angefahren wird. Die Todeswahrscheinlichkeit liegt bei 80 %. Einige oder sogar viele Menschen fahren aber nicht nur 50 Kilometer pro Stunde in einer 50er-Zone, sondern 60 oder mehr. Bei einem Zusammenstoß mit einem Menschen entspricht das einem Sturz aus dem sechsten Stock eines Hauses. Diese Etage gibt es hier in diesem Neubau nicht einmal. Es wären um die 17 Meter. Die Todeswahrscheinlichkeit liegt bei 100 %. Unter Umständen auch tödlich, aber nur, wenn es blöd läuft, ist ein Sturz aus einer Höhe von 3,50 Meter. Das entspricht in etwa dem ersten Stock eines Hauses und dem Zusammenstoß mit einem Fahrzeug mit 30 Kilometern pro Stunde. Die Todeswahrscheinlichkeit ist aber deutlich geringer als bei den ersten beiden Beispielen.

Diese Beispiele zeigen aus meiner Sicht, dass es sich lohnt, die Debatte über Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit oder Reduzierungen in den Innenstädten und Städten zu führen. Bei diesem Antrag geht es darum, Kommunen einen Modellversuch zu erlauben. Das geht uns nicht weit genug. Die Fakten liegen lange auf dem Tisch, Herr Nowak, auch wenn Sie diese nicht wahrhaben möchten und relativieren.

(Andreas Nowak, CDU:  Wir haben Fakten vorgetragen!)

Bei Ihrer Rede fühlt man sich in die Siebzigerjahre zurückversetzt, in denen es um autogerechte Städte ging oder ein Stadtplaner eine Autobahn durch eine Stadt ziehen möchte. So kam es herüber.

(Andreas Nowak, CDU: Es geht  darum, Autofahrer nicht zu gängeln!)

Sie denken sicherlich, dass das Beispiel an den Haaren herbeigezogen ist, weil ein Auto bremsen kann. Natürlich kann ein Auto bremsen. Es stellt sich aber folgende Frage: Wann? 40 Meter weit liegt der Blick, wenn man mit 50 Kilometern pro Stunde fährt. Damit wir uns richtig verstehen: 40 Meter heißt nicht, dass der Autofahrer von 40 Meter weit blicken kann. Erst in 40 Metern beginnt sein fokussierter Blick oder Sichtfeld und er nimmt aktiv etwas wahr. Wenn ich Tempo 50 fahre, kann ich mich – das ist sehr eindimensional – darauf fokussieren. Ich sehe bei 50 Kilometern pro Stunde noch nicht einmal die Kollegen auf den hintersten Bänken der CDU, um bei dem Beispiel im Plenarraum zu bleiben. Ich fokussiere noch weiter hinten. Ich fokussiere also ungefähr die automatische Glastür dort hinten im Eingangsbereich des Raumes. Bei 30 Kilometern pro Stunde liegt mein aktives Blickfeld nicht erst bei 40 Metern, sondern schon bei 15 Metern. Es ist nicht so stark fokussiert. Es ist nicht eng, sondern sehr breit aufgefächert. Ich erkenne viel eher und schneller bei 30 Kilometern pro Stunde, wenn ein Kind einem Ball hinterherrennt oder andere Dinge passieren. Das sind Erkenntnisse, die schon lange bekannt sind, zum Beispiel seit dem Jahr 2000 durch die Technische Hochschule in Zürich. Wenn ich jetzt bei dem Beispiel mit dem Plenarsaal und dem Autofahren bleibe, ich hier am Steuer sitze und mit 50 Kilometern pro Stunde entlang fahre, mein aktiver Blick also ganz hinten an der Glasschiebetür ist und auf einmal jemand von rechts angerannt oder angetorkelt kommt, dann erfolgt der Aufprall bei voller Geschwindigkeit. Ich kann gar nicht rechtzeitig bremsen. Die Reaktionszeit allein beträgt schon 15 Meter. Bei 30 Kilometern pro Stunde und durch den dadurch breiteren Blick und die schnellere Reaktionszeit kommt das Auto schon nach 13 Metern zum Stehen. Da habe ich bei 50 Kilometern pro Stunde noch nicht einmal das Bremspedal gefunden. Das Bundesverkehrsministerium bestätigte das in einem Bericht im Jahr 2010. Hinzu kommen noch weitere Punkte. Da ist das erste Thema Lärm. Das wurde schon angesprochen. 30 statt 50 Kilometer pro Stunde machen ungefähr zwei bis fünf Dezibel weniger Lärm aus. Das ist bewiesen, Herr Nowak.

(Andreas Nowak, CDU: Klar ist es  bewiesen, aber der Mensch hört es nicht!)

Allein schon drei Dezibel werden als eine Halbierung der Verkehrsmenge wahrgenommen. Das ist wichtig, denn der Autoverkehr ist der größte Anteil an Verkehrslärm, der imitiert wird. 10 Millionen Menschen sind in Deutschland davon betroffen, 6 Millionen von der Eisenbahn und 800 000 von Flugzeugen. Das ist belegt durch das Umweltbundesamt im Jahr 2008.

(Andreas Nowak, CDU: Am besten jeden  Verkehr einstellen, dann haben wir es ganz ruhig!)

Zweitens Schadstoffbelastung. Wenn Sie verhindern wollen, dass es bald blaue Plaketten in Umweltzonen gibt, weil die Stickoxide seit Jahren nicht sinken, sondern teilweise steigen, müssen Sie handeln. Wenn Sie nicht wollen, dass ein Drittel aller Autofahrer mit so einer blauen Plakette ein Fahrverbot auferlegt bekommt, müssen Sie andere Wege nutzen, um die Emission zu senken.

(Zuruf des Abg. Christian Piwarz, CDU)

Ein Weg kann sein, die Geschwindigkeit in den Innenstädten und Städten zu reduzieren, denn langsamer und gleichmäßiger Verkehr ist auch schadstoffärmer.

(Andreas Nowak, CDU: Kann es  eben nicht, weil die Werte steigen!)

Auch das ist bewiesen aus dem Bericht des Bundesumweltamtes im Jahr 2009.

(Andreas Nowak, CDU:  Lesen Sie die entsprechenden Studien!)

Drittens und letztens. Wenn wir jetzt noch einmal die Unfallbeispiele zusammenfassen: Jeden Tag verunglücken 566 Menschen bei Verkehrsunfällen in Deutschland, in Städten und Gemeinden – also nicht auf Autobahnen. In Tempo-30-Zonen passieren etwa 40 % weniger Unfälle als in vergleichbaren Tempo-50-Gebieten. Das haben die Universitäten Duisburg und Essen 2012 erhoben. Da sind wir wieder bei der Sicherheitsdebatte von heute Morgen aus der Aktuellen Debatte. Wenn Sie wirklich die Sicherheit von Menschen erhöhen oder verbessern wollen, sollten Sie mit einfachen Maßnahmen dafür sorgen, dass Verkehrsunfälle weniger werden oder zumindest weniger schlimm ausfallen, statt über Burkaverbote oder Überwachungsstrategien zu faseln.

(Unruhe im Saal – Zuruf des  Abg. Valentin Lippmann, GRÜNE)

Zum Antrag der GRÜNEN möchte ich noch sagen: Der Antrag von euch geht uns nicht weit genug, wir stimmen aber trotzdem zu.

(Zurufe von der AfD – Unruhe im Saal)

Wir wollen nicht nur Modellregionen. Wir wollen, dass die Kommunen mehr Selbstbestimmungsrechte erhalten und selber darüber entscheiden, ob, wann und wo Tempo 30 eingeführt wird. Die wissenschaftlichen Fakten dazu sind seit Jahren bekannt. Ihr Umweltminister hat dem bei der Umweltministerkonferenz auch zugestimmt – genauso wie der Verkehrsminister bei der Verkehrsministerkonferenz. Ich hoffe, das entsprechende Gesetz dazu kommt bald. Die Kommunen wollen das auch. Als Beispiel gibt es da eine spannende Geschichte in der Kleinen Anfrage meiner Kollegin Susanne Schaper vom Anfang dieser Legislaturperiode mit der Drucksachennummer 281, wo die Stadtverwaltung Chemnitz ein Teilstück der Leipziger Straße zur Tempo-30-Zone erklären wollte, um Lärm für Anwohnerinnen und Anwohner zu reduzieren, und dann das Landesamt für Straßenbau kam und das wieder einkassiert hat. Dieser Antrag von den GRÜNEN heißt ja nicht, Herr Nowak, dass dann nur noch generell 30 Kilometer pro Stunde gefahren werden können. Das ist völliger Quatsch. Nein.

(Andreas Nowak, CDU, steht am Mikrofon.)

Es wird auch dann noch zentrale Achsen und Straßen geben, die 50 Kilometer pro Stunde zulassen.

  1. Vizepräsident Horst Wehner: Herr Böhme, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marco Böhme, DIE LINKE: Ja.

  1. Vizepräsident Horst Wehner: Herr Nowak, bitte.

Andreas Nowak, CDU: Sie wissen, was der Begriff „Regelgeschwindigkeit“ bedeutet?

Marco Böhme, DIE LINKE: Ja, dass es praktisch umgekehrt wird, dass die heutige Regelgeschwindigkeit von 50 auf 30 Kilometer pro Stunde gesenkt werden kann. Wir wollen aber, dass die Städte das vollkommen allein entscheiden können und es eben nicht zur automatischen Regel wird.

(Staatsminister Martin Dulig: Dann  müssen Sie ein Bundesgesetz ändern!)

Das ist auch in Ordnung, wenn es darum geht, eine Vielzahl von Straßen von 50 auf 30 Kilometer pro Stunde zu senken. Dann können es die Kommunen endlich ermöglichen, dass an allen Straßen, wo Menschen wohnen, Kinder spielen oder ältere Bevölkerungsanteile ihren Alltag verbringen – – Überall dort, wo Menschen leben, flanieren, einkaufen und wohnen, dort könnte Tempo 30 gelten und die Lebensqualität der Städte erhöht werden. Das heißt für die Autofahrer nicht, dass sie dann viel mehr Zeit in der Stadt verbringen müssen, weil der Verkehr dann weniger flüssig fließt. Auch das ist in einer VCD Studie bewiesen, Herr Nowak. Doch auch das ist heute nicht mehr möglich, speziell in Schulen und Senioreneinrichtungen. Die Staatsregierung weiß noch nicht einmal, wie viele Schulen und Kitas oder Senioreneinrichtungen an Hauptverkehrsstraßen liegen, auf denen 50 Kilometer pro Stunde gelten. Zumindest war das die Antwort auf meine Kleine Anfrage mit der Drucksache 6/4899. Das Einzige, was die Staatsregierung zur Verbesserung der Sicherheit laut Antwort macht, ist Verkehrserziehung, also Kindern und Senioren zeigen, dass Straßen gefährlich sind und man dort aufpassen soll. Umgekehrt muss es aber sein. Der Verursacher von potenziellen Gefahren muss mehr Acht geben. Damit er es überhaupt kann – ich habe viele Beispiele genannt –, muss er an Straßen, wo sich für gewöhnlich Menschen aufhalten, eben langsamer fahren.

Vielen Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN)

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